Der Schweizer Filmleser Thomas Binotto zu Gast bei der ‚Academia Annensis‘

„Ich lerne sehen“ – diesem Motto (von Rilkes Romanfigur Malte Laurids Brigge) folgte eine weitere Sektion der ‚Academia Annensis‘ am 20.03.2019, die Thomas Binotto als außergewöhnliche Filmlesung gestaltete. An dem von ihm entfachten ‚Lagerfeuer des 21. Jahrhunderts‘ – wie Herr Schwertschlager in seiner Begrüßung Netflix bezeichnete – saßen diesmal nicht nur die Klassen- und Jahrgangsbesten unserer Schule, sondern auch die Mitglieder eines W-Seminars vom Paul-Klee-Gymnasium Gersthofen: ‚Religion meets Hollywood‘ unter Leitung von Frau Schwertschlager.

Den Titel der Filmlesung – „Superhelden!“ – illustrierte der Referent zu Beginn durch einschlägige Filmausschnitte, die deutlich machten, dass sowohl Klassiker der internationalen Filmgeschichte, wie Tarzan, Pippi Langstrumpf oder Winnetou, als auch aktuelle Filme, wie die James Bond- oder Harry Potter-Reihe, auf ein- und dieselben Versatzstücke zurückgreifen, unabhängig davon, welches Genre und welche Zielgruppe sie haben. Binottos Beispiel für den muster-gültigen Übungskreislauf eines Superhelden, die von ihm so genannte ‚Reise durch das Labyrinth‘, war im Folgenden der US-amerikanische Spielfilm „Spider-Man“ von Sam Raimi aus dem Jahr 2002. Dessen Dramaturgie, die Binotto ebenfalls anhand von Ausschnitten verdeutlichte, gehorcht einer typischen Abfolge von Stationen, sie beginnt im tristen Alltag des Außenseiters Peter Parker, dessen zufällige Initiation durch einen Spinnenbiss das notwendige Dilemma (verkörpert auch durch seinen Mentor Onkel Ben einerseits und seinen Gegenspieler, den grünen Kobold, andererseits) hervorruft: Künftig führt Peter ein Doppelleben, dessen Pendant Spider-Man ist und das seine Identität auf eine Zerreißprobe stellt, als seine große Liebe Mary Jane zum Spielball des grünen Kobolds wird. Am innersten, scheinbar aussichtslosen Punkt des Labyrinths angekommen verweigert sich Peter zwar, entscheidet sich dann aber, ohne noch über die übermenschlichen Kräfte Spider-Mans zu verfügen, intuitiv dafür, ein Kind aus einem brennenden Haus zu retten – wodurch er sich tatsächlich in einen Helden verwandelt, bevor er durch einen weiteren Impuls im vitalen Interesse Mary Janes wieder Spider-Man wird: signalisiert durch ein ‚Auferstehungswunder‘, das ihn zur Rettung der Geliebten ermächtigt. Dadurch entsteht eine ‚Endlosschlaufe‘, die das serielle Erzählen ermöglicht: Nicht nur ist „Spider-Man“ eine Verfilmung der gleichnamigen Comic-Serie von Stan Lee, dem legendären Erfinder von rund 600 Superhelden-Geschichten, sondern hat inzwischen selbst zwei Fortsetzungen (2004 und 2007). Der mögliche Transfer auf weitere Superhelden- und Superheldinnen-Filme (vgl. weibliche Variationen wie „Supergirl“, „Jessica Jones“, „Wonderwoman“ oder „Captain Marvel“) und die damit verbundenen Wiedererkennungseffekte begeisterten Binottos Publikum, regten zum eigenen Weiterdenken und -sehen sowie vielleicht auch zum Weiterlesen an: Denn auch in der Literatur soll es ‚Superhelden‘ geben.

Vielen Dank: an Herrn Binotto für eine inspirierende Lesung; an die Societas Annensis, die die ‚Academia Annensis‘ unter der Schirmherrschaft Herrn Schwertschlagers immer wieder großzügig unterstützt; sowie an die MB-Dienststelle, die die Veranstaltung in Verbindung mit einer schulinternen Fortbildung am Nachmittag für Deutsch- und Englisch-Lehrkräfte finanziert hat.

(Dr. Sandra Schwarz)